11 Erinnern und Vergessen

Das Vergangene ist nie tot.

Es ist nicht einmal vergangen.

William Faulkner

„Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, in der Schule wird geschrieben ...“

Dass die Schule mit Schreiben zu tun hat, weiß jedes Kind. Aber das war nicht immer so. Lange Zeit war das Schreiben kein Thema in der Bildung und Erziehung Heranwachsender. Noch bis zum fünften Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gab es an den Erziehungseinrichtungen Athens keine Förderung oder auch nur Berücksichtigung der heute so geschätzten schriftsprachlichen Kompetenz. In den Anfängen konzentrierte sich das Lernen für junge Menschen vielmehr ganz auf die mündliche, musikalische und sportliche Ausbildung. Erst mit Platon bahnte sich allmählich eine Wende an. Seine berühmten „Dialoge“ sind schriftliche Nachahmungen mündlicher Zwiegespräche – wobei der Philosoph keinen Zweifel daran ließ, dass er das Denken, das nicht ans Schreiben geknüpft ist, für das bessere hielt und der Erziehung zur Schriftlichkeit vorzog. In der damals noch neuen Kulturtechnik des Schreibens hingegen sah Platon ein „Pharmakon“, eine Medizin, die Segen und Unheil zugleich in sich berge. Sein Dialog „Phaidros“ erzählt die Geschichte von Theuth, dem Erfinder der Buchstaben, der dem König Thamos von Theben seine Erfindung als ein Mittel verkaufen will, das die Kraft des Erinnerns seiner Untertanen stärke. Doch der König lehnt dankend ab. „Diese Erfindung wird den Seelen der Lernenden vielmehr Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung der Erinnerung, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen mittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden.“ Das Resultat sei, dass die Menschen sich vielwissend dünkten, ohne weise geworden zu sein.

Angesichts der modernen Bildungsmisere lohnt es, sich die Worte des antiken Philosophen und Gründers der ersten Akademie der Welt noch einmal ins Gedächtnis zu rufen. Wer fragt heute überhaupt noch, ob schulische Bildung junge Menschen weise macht? Wie viele Heranwachsende lernen in der Schule vorrangig für gute Noten, nicht jedoch, um ihr Erinnerungsvermögen zu trainieren, etwa indem sie Gedichte oder andere Texte auswendig lernen und sie sich so für ihr ganzes Leben zu Eigen machen? Nur „was man schwarz auf weiß besitzt, kann man getrost nach Hause tragen“, meint der beflissene Schüler in Goethes Faust. Die schriftliche Fixierung gibt Worten einen größeren Anspruch auf Gewissheit und Verbindlichkeit, schwächt aber auch das Vertrauen in den unmittelbaren Umgang von Mensch zu Mensch und vor allem das Vertrauen des Menschen in sich selbst. Das Innere, das in dem Wort Er-innern steckt, bleibt auf der Strecke.

Er-inner-ung meint das, was es inwendig, im eigenen Innern, zu bewahren gilt.

In diesem Sinne kann auch das schreibende Erinnern heilsam und sogar notwendig sein. Das Leben meines Vaters schrieb ich aus seiner Perspektive auf, um zu verhindern, dass er sich durch das krankheitsbedingte Nachlassen seines Gedächtnisses eines Tages selbst abhandenkäme. Er las bis zuletzt gerne in seinem Leben und verfügte auf diese Weise über ein probates Mittel, den schmerzlich empfundenen Gedächtnislücken entgegenzuwirken.

Gravierender noch ist die Gefahr von kollektiven Gedächtnislücken, denen das erinnernde Schreiben als wirksames Korrektiv begegnen kann. Elie Wiesel, als Jude Opfer und Überlebender des Holocaust, fragt sich im Vorwort zu seinen erschütternden Erinnerungen („Die Nacht“), warum er eigentlich dieses Buch geschrieben hat. Nach Abwägen der verschiedensten Gründe kommt er zu dem Schluss:

"In Wahrheit muss ich gestehen, dass ich mit zunehmendem Abstand nicht weiß, oder nicht mehr weiß, was ich mit meinen Äußerungen erreichen wollte. Ich weiß nur, dass ohne dieses kleine Werk mein Schriftstellerleben, ja, mein ganzes Leben nicht gewesen wäre, was es ist: das eines Zeugen, der sich moralisch und menschlich verpflichtet fühlt, den Feind daran zu hindern, einen nachträglichen Sieg zu erringen, indem er seine Verbrechen aus dem Gedächtnis der Menschheit tilgt."

Solche Sätze offenbaren nicht nur die Unmenschlichkeit und fehlende moralische Verantwortung jener Zeitgenossen, die am liebsten für kollektives Vergessen und Verdrängen sorgen würden. Die Worte, mit denen Wiesel rang, zeigen zugleich, wie wichtig es ist, schreibend die Erinnerung an das, was geschehen ist, wachzuhalten. Denn das Vergangene ist nicht tot, es bildet vielmehr den Boden, auf dem sich die kommenden Generationen bewegen. All die Leichen, die privat wie kollektiv unter den Teppich gekehrt wurden, werden diesen Boden vergiften und im schlimmsten Falle für die Nachwelt unbewohnbar machen.

Nächsten Monat geht es hier weiter mit: 12. Deutschunterricht.

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